Der große Brand von Frankenstein.
Der große Brand von Frankenstein. Erinnerungen eines Augenzeugen. (entnommen dem Buch "Am Born der Heimat")
Eine der folgenschwersten Katastrophen, die meine Vaterstadt Frankenstein erlitten hat, war der Brand vom Jahre 1858, durch welchen in kurzer Zeit fast die ganze Stadt vernichtet wurde. Ich war damals ein Knabe von etwa 6 Jahren, die bei dem furchtbaren Ereignis gesehenen Bilder haben aber einen so tiefen, unverlöschlichen Eindruck auf mich gemacht, daß sie mir noch heute, obwohl ich inzwischen ein alter Mann geworden bin, wieder lebhaft vor Augen treten, wenn ich daran erinnert werde. Es war Sonnabend, am 24.April 1858. Noch stand die gesamte Einwohnerschaft unter dem Eindruck der Trauer um den erst ein paar Tage vorher (20.4.) feierlichst zu Grabe getragenen, allseitig beliebten und hochverehrten Stadtpfarrer Kanonikus Nikolaus Fischer. Soweit ich mich erinnere, versprach der Morgen ein schöner Frühlingstag zu werden, denn die Sonne schien anfangs warm und schön, so daß wir Kinder aus der näheren Umgebung wie gewöhnlich uns spielend in den engen Gäßchen um das Rathaus herum tummeln konnten, wo sich auch mein Geburtshaus (jetzt Stadtbauamt) befand. Wie mir aus späteren Erzählungen bekannt geworden ist, hatte ein starker Sturm bereits in der Nacht zu Sonnabend gehaust, war gegen Morgen etwas abgeflaut, hatte sich im Laufe des Vormittasgs indes wieder erhoben und war gegen Mittag zu einem fürchterlichen Orkan geworden. Während sich die Eltern nach gemeinsam eingenommener Mittagsmahltzeit wie gewöhnlich aus dem im oberen Stock gelegenen Wohnzimmer wieder hinab in das zu ebener Erde gelegene Geschäft begaben, war ich mit meiner um zwei Jahre jüngeren Schwester oben verblieben. Nicht allzulange Zeit darauf, etwa gegen 2 Uhr, hörten wir plötzlich aus dem heulenden Sturm heraus das Feuerhorn des auf dem Ratsturm mit seiner Familie wohnenden Turmwächters Lessel. Bald darauf mischte sich auch das ebenfalls im Ratsturm hängende hell klingende Sturmglöckchen hinein zum Zeichen, daß Feuer in der Stadt ausgebrochen war. Erschreckt kam die Mutter heraufgeeilt, uns zurufend: "Kinder, ein großes Feuer, bleibt still im Zimmer und betet!" Sie begab sich wieder hinunter in den Laden, während der Vater zur Löschhilfe eilte. Nach Jungenart voll Neugierde, lief ich doch bald hinunter, die Gasse hinauf bis an die Rathausecke neben dem Schmetterhause. Anfangs ohne besondere Angst und ohne Verständnis für den Ernst des Ereignisses, sah ich nur vom Silberberger Tor her eine ungeheure schwarzgelbe Rauchwolke über die vor mir liegenden Ringhäuser sich heraufwälzen. Aus allen Häusern kamen die Bewohner herausgestürzt, die Männer mit Löscheimern, die Frauen händeringend, Kinder schreiend sich an die Erwachsenen anklammernd. Dazu blies und läutete es noch immer vom Ratsturm, und man hörte auch das Geläut der Kirchenglocken. Es sah und hörte sich schauerlich an. Von Schrecken und Grauen erfüllt, suchte ich schreiend zurück zum Elternhaus zu eilen. Inzwischen hatte sich das Feuer, von dem rasenden Sturm getrieben, bereits über den ganzen westlichen Teil vom Silberberger Tor herauf, zwischen Kirchstraße und rechts der Silberberger Straße bis zum Oberring, verbreitet. Es lief, wie ich mich noch lebhaft daran erinnern kann, buchstäblich über die ausschließlich noch mit Schindeln gedeckten Häuser dahin wie eine rauchende und funkensprühende Lokomotive. Zugleich trieb der Sturm breite Feuer-und Funkengarben über die Stadt nach Osten zu, so daß in kurzer Zeit die Kirchgasse mit dem oberen Teil des schiefen Gockenturms, die Ringmittelhäuser mit dem Rathausturm und dem ebenfalls mit Schindeldach versehenen Rathause in Flammen standen. An ein Löschen des Feuers war nicht mehr zu denken. Die Bewohner der bereits vom Brande erfaßten Stadtteile kamen in Scharen über den Oberring durch die beiden schmalen Mittelgäßchen gerannt, fast sinnlos vor Angst und Schrecken. Sie hatten alles im Stich lassen müssen, nur um sich mit den Anghörigen selbst zu retten. Der Wirrwarr war so groß, daß ich nicht zurückkonnte, sondern hin-und hergestoßen, jammernd nach Vater und Mutter rief. Da wurde ich von einem Manne hochgenommen und zum Elternhause gebracht, wo ich meine Mutter vorfand, die vor Angst und Sorge um mich fast vergangen war, während sich mein Vater noch auf der Suche nach mir befand. Um uns beide Kinder zunächst in Sicherheit zu bringen, wurden wir durch unser Kindermädchen zu deren Eltern gebracht, welche in einem der drei letzten Häuser der Niedergasse wohnten, links am Ringe her. Obgleich für die Niedergasse anscheinend noch keine Feuersgefahr bestand, herrschte auch hier schon die größte Aufregung. Aus allen Häusern räumten die Leute alles, was in den kleinen Kellern im Hause nicht unterzubringen war, heraus mitten auf die Straße, so daß diese bald unpassierbar war. Nicht lange nachher war auch dieser Teil vom Brande ergriffen, und alles auf die Straße Geräumte wurde von der furchtbaren Glut von beiden Seiten her ebenfalls zum Brennen gebracht und restlos vernichtet. Wir waren kaum in unserem Zufluchtsorte untergebracht, da kam die Mutter des Mädchens, nahm meine Schwester auf den Arm, mich bei der Hand und rannte mit uns die Straße zum Glatzer Tor hinaus bis in die Nähe des jetzigen Tabäen-Stiftes. Dort setzte sie uns bei dem auf der Anhöhe befindlichen (vor einigen Jahren zugeschütteten), damals mit Eisen umgitterten Teiche nieder, mitten zwischen die von der Obergasse hergeschafften Möbel aller Art, Betten u.a.m. und lief eilends wieder davon. Besonders ist mir dabei in Erinnerung geblieben, daß in unmittelbarer Nähe von uns eine große Anzahl von Broten aufgeschichtet lagen, wahrscheinlich aus einer ganz in der Nähe befindlichen Bäckerei. Auch andere Kinder waren schon hier, und es kamen noch immer mehr, die wie wir zwischen die größeren Möbelstücke gesetzt wurden und ebenso wie mein Schwesterchen vor Furcht und Angst weinten und schrieen. Zu unserer Bewachung und Beaufsichtigung waren größere Mädchen und Knaben bestellt, die, ebenfalls mit Furcht und Grauen erfüllt, dem wilden Tumult um uns herum zusahen. Ich weiß mich nur noch so weit zu erinnern, daß ich stumm und starr mein Schwesterchen, das inzwischen eingeschlafen war, an mich gedrückt hatte und entsetzt war über das, was ich bereits erlebt hatte und was um mich herum vorging. Dabei hoffte ich sehnlichst, daß meine Eltern bald kommen und uns holen würden. In Folge der vom Sturme immer weiter über die Häuser fortgetriebenene Funkenregen waren von der Südseite des Ringes her die ersten Häuser der Niedergasse in Brand gesetzt und in schneller Folge die ganze Gasse bis hinunter erfaßt worden. Das Feuer ergriff von der Badergasse hinaus die Häuser links neben der Zadeler Kirche und von da weiter das ganze Dorf Zadel. Die Bewohner der Niedergasse strömten durch die schmalen Quergassen nach der eigentümlicherweise noch nicht in Brand geratenen Obergasse, um ihr Leben zu retten, von da hinunter an uns Kindern vorbei weinend zum Tore hinaus, auf Zadel, Göckelsberg oder auch rechts hinaus, auf Tarnau zu. Unter der Menschenmenge entdeckte ich plötzlich auch unsere Mutter. Mit aufgelösten, versengten Haaren und versengten Kleidern kam sie weinend mit einer Anzahl anderer Frauen in gleicher Verfassung vom Ringe heruntergelaufen. Sie suchte nach ihren Kindern. Mit einem Freudenschrei sprang ich in die Höhe, raffte mein Schwesterchen auf und lief ihr entgegen. – Niemals in meinem Leben kann und werde ich das vorher noch wirr und angstverzerrte – bei unserem unvermuteten Auftauchen erst starr und stumm, dann aber allmählich freudig aufleuchtende Gesicht meiner Mutter vergessen. – Sie konnte zunächst nicht sprechen, drückte uns innig an sich und stieß dann ein aus tiefster Seele kommendes:"Gott im Himmel sei tausendmal gedankt", heraus. So oft mir auch in späteren Jahren bei besserer Erkenntnis dessen, was meine Eltern, besonders aber das Mutterherz an jenem Schreckenstage um uns empfunden und gelitten haben, diese Bilder vor Augen traten, haben sie mich mit Rührung und mit innigem Gedenken daran erfüllt. Die nächste Frage war nun: Wo ist der Vater? Mutter konnte nur berichten: Nachdem Vater und sie mit unserer Großmutter, die zufällig einige Tage zum Besuch gekommen, so lange es ging an der Bergung von Sachen in den Keller bezw. vor die Tür gearbeitet hatten, war er mit anderen Männern zur Rettung der Archivs- und der Registratur-Akten herangezogen worden. Nachdem wir Kinder wieder mit der Mutter glücklich vereint waren, führte sie uns zum Glatzer Tor hinaus und suchte Zuflucht im damaligen Spital (der jetzigen Bürgermeisterwohnung). Dieses war jedoch schon von Hunderten, die dort ebenfalls Schutz suchten, bis an die Haustür vollgepfropft. Wir konnten hier nicht lange verweilen. Das Feuer hatte inzwischen auch schon die Häuser bis an das Glatzer Tor erfaßt. Mit Gewalt wurden nun alle im Spital sich befindlichen Leute hinausgewiesen, in der Besorgnis, daß das Feuer auch bis hierher sich weiter verbreiten könnte, was jedoch – weil das Haus völlig massiv gebaut mit feuersicherem Dach versehen war – nicht geschah. Da wir dicht an der Haustür standen, kamen wir zuerst mit heraus und eilten über die Johannesbrücke in das letzte Haus (Felsenburg genannt), deren damalige Bewohner mit den Eltern bekannt waren. Dort wurden wir aufgenommen und konnten mehrere Tage verbleiben. Müde, bis zum Tode erschöpft, kamen wir endlich ein wenig zur Ruhe. Ich erinnere mich noch an den Anblick, den von hier aus die über und über brennende Stadt und ein Teil von Zadel, um die Kirche herum, besonders am Abend gewährte. Hochauf loderten die Flammen, auch der Ratsturm erschien bis in die Spitze hinauf wie eine Feuersäule. Sein oberes Teil brach in der Nacht gegen 2 Uhr zusammen. Der obere Teil des ebenfalls in Brand geratenene schiefen Glockenturms war bereits am späten Nachmittag des ersten Brandtages mit der dort hängenden Sterbeglocke herab auf das Haus des damaligen Barbiers Widek gefallen. Von der furchtbaren Glut geschmolzen, stürzten später auch die großen Glocken inwendig in den Turm auf ein im unteren Stockwerk sich befindliches Gewölbe, ohne dieses indessen zu durchschlagen. Am anderen Tage nachmittags, versuchte die Mutter einmal in die immer noch brennende Stadt zu gelangen, um nach dem Verbleib von Vater und Großmutter zu forschen. Als sie zurückkehrte, brachte sie die Nachricht mit, daß Vater noch immer bei den Bergen von Akten aus dem nur bis zum ersten Stockwerk ausgebrannten Rathaus beschäftigt war. Außer kleinen Brandwunden an Händen und Rücken hatte er keinen Schaden davon getragen. Die Großmutter war mit leichten Brandwunden einstweilen im Kloster der Barmherzigen Brüder mit einer großen Anzahl anderer ebenfalls verletzter Männer und Frauen untergebracht worden. Sie hatte es trotz aller Warnungen gewagt, in die über und über brennende Niedergasse einzudringen, um zu uns Kindern zu gelangen, war jedoch nicht weit gekommen, als ihre Kleider zu brennen anfingen. Von einigen beherzten Männern war sie hingeworfen, auf dem Boden hingerollt worden, um die Flammen zu ersticken und so gerettet worden. Dieser Vorgang wurde mir ganz kürzlich von dem in Frankenstein noch lebenden Augenzeugen, Bäckermeister Sonntag, in gleicher Weise geschildert. Er erinnerte sich auch noch an das entsetzliche Verbrennen von einigen zwanzig Männern und Frauen in einem Keller des Gasthauses "Stadthaus" am Ende der Badergasse. In den Keller hatten sich weit über 40 Menschen geflüchtet, weil durch die Straßen der fürchterlichen Glut wegen niemand ohne Gefahr mehr fortkommen konnte. Als das Haus darüber nun auch herabbrannte, drangen Glut, Rauch und Feuer bis hinab in den Keller zu den eng zusammengedrängten Menschen, für die es nach oben kein Entweichen mehr gab. Niemand in der Nähe hatte wohl in dem fürchterlichen Tumult Kenntnis von dem Aufenthalt so vieler Menschen im genannten Keller. Erst auf das entsetzliche Hilfegeschrei der unglücklichen, dem Verbrennen und Ersticken ausgesetzten Menschen eilten einige beherzte Männer zur Rettung herbei. Trotz übermenschlicher Anstrengung unter Nichtachtung des eigenen Lebens, gelang es leider nur, einen kleinen Teil der Eingeschlossenen zu retten. Über zwanzig verbrannte Leichen mußten herausgeholt werden. Ebenso viele Leute, zwar noch lebend, doch mit schweren Brandwunden, wurden ins Barmherzige Brüderkloster geschafft, auch die Überreste der so furchtbar ums Leben gekommenen. Diese wurden einige Tage darauf in einem gemeinsamen Grabe in feierlicher Weise unter Mitwirkung der Geistlichkeit beider Konfessionen zur letzten Ruhe bestattet. Grab und Denkmal, von der Stadt gesetzt, befinden sich heute noch ziemlich gut erhalten auf dem östlichen Teile des Kirchhofes in nicht weiter Entfernung oberhalb der Totengräberwohnung. Das Denkmal weist 21 Namen von Verbrannten auf, während im Ganzen jedoch 27 durch Verbrennen den Tod gefunden haben, von denen aber 6 in Einzelgräbern beerdigt worden sind. Lange Jahre nachher konnte man in Frankenstein von Brandwunden entstellte Männer und Frauen sehen. Die ganze Stadt bis auf einen kleinen Rest des nördlichen Teiles, und zwar die Häuser des Rosenringes wie der Breslauer und der Klostersteraße, war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen, als ich sie nach einigen Tagen wiedersah. Die meisten Straßen, insbesondere die Nieder-, Ober-und Kirchstraße, waren längere Zeit unpassierbar. Unter den aus eingefallenen Mauern, Giebeln, verkohltenm Holzwerk, verbrannten Sachen meterhoch aufgetürmten Schutthaufen glühte es immer noch; wenn ein Windstoß durchfuhr, schlug die Flamme noch oft lichterloh in die Höhe. Die noch stehengebliebenen hohen, massiven, rauchgeschwärzten Giebel und Schornsteine ragten gespensterhaft aus den Trümmern heraus, ein grauenerregender, mir Schreck und Angst einflößender Anblick. So oft ich als Schüler – und auch später noch – aus Schillers Lied von der Glocke die ergreifende Schilderung einer Feuersbrunst gelesen oder bei Aufführungen mitgesungen habe, trat immer wieder das damalige Bild meiner Vaterstadt mir lebhaft vor Augen. Auf dem Ringe standen in langen Reihen die zur Löschhilfe von nah und weitester Ferne herbeigeeilten Feuerspritzen. Sie werden während des Brandes selbst kaum in der Lage gewesen sein, irgendwie in Tätigkeit zu treten, da die furchtbare Glut und Gefahr in den engen Straßen und auch die damals völlig unzureichenden Wasserverhältnisse der Stadt dies von vornherein unmöglich machten. Die Stadt erschien völlig menschenleer. Nur vereinzelt sah man hier und da einige Männer, die sich auf den Trümmern ihrer zerstörten Wohnstätten bewegten. Viele Hunderte von Familien hatten nicht nur all ihr Hab und Gut verloren, sondern waren obdachlos geworden, soweit sie nicht außerhalb bei Verwandten und Bekannten Unterkunft gefunden hatten. Für diese mußte schleunigst vorläufiger Aufenthalt beschafft werden. Hierzu wurden zunächst die vorhandenen Räume in der Burgruine hergerichtet. Im Hofe der Burg wurden einfache Baracken errichtet, deren Spuren heut noch an der nördlichen Hofmauer sichtbar sind. Dasselbe geschah auf dem freien Platz vor dem Schützenhause, der damals, da der später erst angelegte Garten noch nicht bestand, hinreichend Raum dafür bot. Einige wenige Familien, darunter meine Eltern, konnten in den noch erhaltenen gewölbten Räumen im Rathaus bis zum Wiederaufbau der Brandstätten untergebracht werden. Der Wiederaufbau der zerstörten Stadt mußte nun nach Möglichkeit in Angriff genommen werden, trotz der Geldnot bei den Bewohnern, die fast das gesamte Hab und Gut verloren hatten. Feuerversicherungen waren damals noch nicht eingeführt. In der ganzen Monarchie und darüber hinaus wurde eine Sammlung zu Linderung der dringendsten Not und des größten Elends in die Wege geleitet, die in dankenswerter Weise einen reichlichen Erfolg hatte. Außer Lebensmitteln, Möbeln und Kleidungsstücken konnten 200 000 Taler (wie Prof.Kopietz in seiner Geschichte der Stadt berichtet), von dem Unterstützungskomitee an die Bedürftigen verteilt werden. Doch hat sich der gänzliche Wiederaufbau bis weit in die 60er Jahre hinaus ausgedehnt. Einzelne Brandstätten sind bis heute noch nicht wieder aufgebaut. Da der Ratsturm ausgebrannt war und eine stete Gefahr des Einstürzens bestand, mußte an den Abbruch gedacht werden. Um das schneller zu bewerkstelligen, kam man auf den Einfall, ihn durch die damals in Münsterberg untergebrachte Abteilung der Feldartillerie einschießen zu lassen, was auch in Szene gesetzt wurde. Eines Tages wurde die gesamte Einwohnerschaft einschließlich der in den Baracken am Schießhaus Untergebrachten beordert, sich nachmittags entweder auf den Zadler Kirchberg zu begeben oder sonstwohin in Sicherheit zu bringen. Auf dem genannten Berge nach der Münsterberger Chaussee zu, unterhalb des sogenannten Kaldaunenweges, etwa da, wo nunmehr die Villa des Amtsgerichtsrats Elster sich befindet, war eine Batterie, also 2-4 Geschütze, nicht wie Prof. Kopietz berichtet, 1 Geschütz, aufgefahren. Das war, besonders für uns Knaben, ein außerordentliches, mit Spannung erwartetes Ereignis, weshalb wir uns in möglichster Nähe dazu aufstellten, während die Erwachsenen, Männer und Frauen, sich um die Kirchhofsmauern herum lagerten. Die Kanonen hatten, wie mir noch gut in Erinnerung ist, gelbe Bronzerohre auf blauen Lafetten. Von den Kanonieren hielt der eine eine schwarze Stange in den Händen, an welcher an dem einen Ende ein schwarzer Wischer, an dem anderen eine Art brennender Laterne als Lunte sich befand, die er auf Kommando auf das Zündloch senkte, worauf der Schuß mit fürchterlichem Krach losging. Vor Schreck fielen wir beinahe hin und ergriffen schleunigst Flucht nach der Kirchhofsmauer. Nach dem Schuß wurde das Rohr sogleich mit dem Wischer ausgeputzt und wieder geladen. Die Schießerei dauerte so ziemlich den ganzen Nachmittag und hatte schließlich den Erfolg, daß oberhalb des Kranzes ein noch darüber hinausragender, nach oben sich zuspitzender Mauerzacken von etwa 2 Meter Höhe und 1 Meter unterer Breite zum Absturz kam. Die meisten Kugeln waren, wie sich später ergab, darüber hinaus oder rechts und links vorbei über die Stadt weg auf den Peterwitzer und Olbersdorfer Feldern gelandet, wo solche nach Jahren bei der Ackerbestellung gefunden wurden. Ich bekam einige davon später zu sehen, sie waren Vollkugeln von etwa 3 Zoll im Durchmesser. Mit einem einzigen Geschütz der Jetztzeit hätte man in kurzer Zeit nicht nur den Turm, sondern das ganze Rathaus zusammenschießen können. Der Wiederaufbau des Rathauses unterblieb bis zum Jahre 1861 und geschah von Grund aus, nicht wie Kopietz schreibt, bis auf die noch vorhandenen unteren Gewölbe einschließlich des Schankkellers. Da mein Vaterhaus unmittelbar am Rathaus gelegen war und ich daher Abbruch und Wiederaufbau Tag für Tag vor Augen hatte, ist mir dies noch voll im Gedächtnis. Beim Abbruch des Turmes mußte auch die in einer Nische befindliche steinerne Muttergottesstatue, die noch wohl erhalten war, heruntergenommen werden. Sie hat viele Jahre in einem Bretterverschlag im Hofe der katholischen Schule gestanden. Warum sie nicht mehr im Ratsturme an gleicher Stelle angebracht wurde, sondern einer neuen Platz machen mußte, ist nicht bekannt geworden. Sie wurde vor etwa 20 Jahren endich aus ihrem Versteck hervorgeholt und ihr nach vorgenommener Instandsetzung ein würdiger Platz an der Südmauer des alten Pfarrkirchhofes gegeben, dem sie nunmehr zur Zierde gereicht. Während der zweijährigen Dauer des Rathausneubaues war der Platz vor demselben ebensolange in seiner ganzen Breite und Länge bis etwa gegenüber dem jetzigen Flassig´schen Schuhgeschäft mit einem hohen Bretterzaun umschlossen, innerhalb welches sich die notwendigen Bauhütten, wie Kollonaden für Steinmetzen und Bildhauer befanden, welche in kunstvoller Weise die zahlreichen Sandsteinwerkstücke bearbeiteten. Im Sommer des Jahres 1864 wurde das stattliche, kunstvoll im gotischen Stil errichtete Rathaus mit seinem schlanken, über den Kränzen mehrfach durchbrochenen Turm fertiggestellt, wie auch der Aufbau der zerstörten Wohngebäude allmählich wieder erfolgt war. Das frühere Stadtbild hatte damit allerdings ein ganz anderes, aber recht freundliches Aussehen bekommen, und neues Leben war aus den Ruinen erblüht. Die vom Unglück so schwer heimgesuchten Bewohner atmeten allmählich wieder auf und gingen mit neuem Mut an die Arbeit zum Wiederaufbau ihres zerstörten Lebens, was auch von bestem Erfolg begleitet war. Möge Gottes schützende Hand über meiner lieben Vaterstadt fernerhin walten und sie vor derartig schweren Schicksalsschlägen für immer bewahren! Giersdorf, 10.Januar 1926 Josef Peschke, Amtsvorsteher, Oberrentmeister i.R. |