Goethe fährt nach Frankenstein und Reichenstein

Im Sommer 1790 reiste Goethe von Breslau nach Frankenstein und Reichenstein. Seinen 41.Geburtstag feierte er dann in Glatz. Begleiten wir ihn auf dieser Reise und versuchen wir, unsere Heimat so zu sehen, wie Goethe sie damals sah. Es war im Sommer 1790, zur Zeit der Unterzeichnung der Reichenbacher Konvention. Da befand sich Herzog Karl August von Sachsen-Weimar im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. in Schlesien in Zirlau bei Freiburg mit den ihm unterstellten Elite-Truppen im Feldlager. Er hatte Goethe eingeladen, ihm zu folgen und ihn auf einer Schlesienreise zu begleiten. Am Morgen des 26.7.1790 war Goethe mit seinem Diener Paul Götze in Weimar mit der Kutsche nach Schlesien aufgebrochen. Auf dem Weg sah er die Schneekoppe zum ersten Mal, den höchsten Berg Deutschlands außerhalb der Alpen. Die politische Lage hatte sich nach der Unterzeichnung der Reichenbacher Konvention am 27.7. entspannt. Österreich, das an der Seite Russlands mit der Türkei im Streit gelegen hatte, würde den eroberten Landstrich längs der Donau an die Türken zurückgeben, das politische Gleichgewicht in Europa war nicht mehr bedroht. In Zirlau lernte Goethe das Leben in einem Feldlager kennen und dichtete:

Feldlager
Grün ist der Boden der Wohnung, die Sonne scheint durch die Wände,
Und das Vögelchen singt über dem leinenen Dach;
Kriegerisch reiten wir aus, besteigen Schlesiens Höhen,
Schauen mit gierigem Blick vorwärts nach Böhmen hinein.
Aber es zeigt sich kein Feind - und keine Feindin; o bringe,
Wenn uns Mavors betrügt, bring uns, Cupido, den Krieg.


Fühlte der Dichter, daß, nun wo sich der Kriegsgott Mavors, Mars, zurückgezogen hatte, Cupido, der kleine tückische Liebesgott mit seinen hinterhältigen Pfeilschüssen ihm wieder einmal gefährlich werden könnte?

Das preußische Königspaar begab sich nach Breslau, seiner nach Berlin und Königsberg dritten Residenzstadt, um anläßlich der Unterzeichnung der Konvention dort Festlichkeiten zu begehen. Auch Herzog Karl August mit seinen Corps ging daher von Zirlau nach Breslau. Goethe war ihm nach einem kleinen Abstecher zu den Granitsteinbrüchen bei Gräditz gefolgt. Des Herzogs Quartier lag in einem Herrenhaus in Gräbschen, das damals noch ein Dorf etwas südlich von Breslau war. Am Tag nach seiner Ankunft schrieb Goethe jenen berühmt gewordenen Brief an Herder in Weimar, nur den Namen des Ortes wo er sich befand, hatte er wohl nicht richtig gehört. Er schreibt:

Grebischen vor Breslau, d. 10.August 90
Nach geschloßnem Frieden macht nun die ganze Armee sachte Rückbewegungen. Die Brigade des Herzogs liegt auf den Dörfern ohnweit Breslau. Heute war ich in der Stadt und habe nur den Minister Hoym einen Augenblick gesprochen. Seit Anfang des Monats bin ich nun in diesem zehnfach interessanten Lande, habe schon manchen Teil des Gebirgs und der Ebene durchstrichen, und finde, daß es ein sonderbar schönes, sinnliches und begreifliches Ganzes macht. Manche Unannehmlichkeit und Plage wird durch neue Begriffe und Ansichten vergütet. Ich werde viel zu erzählen haben, wenn es mir im Winter wieder erzählerisch wird. Schreiben kann ich nicht, das wißt Ihr. Also nur, daß der Herzog wohl ist, stark und dick, auch der besten Laune. Aller Wahrscheinlichkeit nach bricht die Armee vor Ende des Monats in Schlesien auf. Ich mache eine Reise durch die Grafschaft Glatz und kehre nach Dresden, dann über Freiburg zu Euch zurück. Diesen Brief versah Goethe am 12.8. mit einer Nachschrift: "Der König kam gestern früh an...."
Der erwähnte Graf Hoym war dirigierender Minister in Schlesien, er war hier der ranghöchste Beamte und hatte seine Ministerwohnung im königlichen Schloß. Wie schon gesagt, galt Breslau nach Berlin und Königsberg als dritte Haupt-und Residenzstadt von Preußen.

Wegen der folgenden vielen Verpflichtungen und Festlichkeiten in Breslau, verlegte Herzog Karl August, mit ihm Goethe, sein Quartier in die Innenstadt, in das Hotel"Zum Roten Haus" in der Reuschestraße. Jetzt am 26.August fährt Goethe mit seinem Diener Paul Götze als Kutscher, zwei flotte Pferde des Herzogs vor der Chaise, das Gepäck gut verstaut, Richtung Eulengebirge, Richtung Grafschaft Glatz. Um 10 Uhr waren sie losgefahren, in südlicher Richtung aus dem betriebsamen Breslau hinaus nach Hartlieb zum Gut des Baron von Lüttwitz. Noch ist es keine Stunde her, daß er Hartlieb wieder verließ und dort von Henriette von Lüttwitz Abschied nahm. Seine Gedanken gehen zurück. In Breslau hatte er die junge Freiin während eines Diners bei einem dort neu gewonnenen Freund, dem geborenen Pommer Friedrich von Schuckmann, kennengelernt. Schuckmann war Rath im Oberamtshaus (Kammergericht) und Oberbergrichter. Mit Henriette von Lüttwitz hatte er wundervolle Tage in Breslau verlebt. Er liebte sie und sie war ihm auch herzlich zugetan. So hatte er Henriette um ihre Hand angehalten. Und heute hatte er auf dem Gut des Baron von Lüttwitz in Hartlieb Station gemacht. In Gedanken sieht er noch das Herrenhaus im Park, die schöne Gartenanlage am Haus, in das Henny ihn einließ noch ehe ein Diener kommen konnte. Zusammen mit Henriettes Mutter, der Baronin, hatte man Tee getrunken. Dann hatte er mit dem Baron in dessen Kabinett gesprochen, ihm höflich seine Werbung um Henriettes Hand vorgetragen. Er hatte sich entschuldigt, daß alles etwas überstürtzt kam, aber er befinde sich auf dem Weg in die Grafschaft, die Reise war lange schon geplant, und heute wolle er noch mit seiner Chaise bis Frankenstein kommen. Doch es war natürlich ein längeres Gespräch geworden, über seine Herkunft, Studien, Reisen usw.; der Baron sprach über seine Familie, die schon 1420 geadelt wurde, von Kaiser Sigismund auf dem Reichstag von Breslau. Der Baron bedeutete ihm, daß seine Gemahlin und er seine Werbung um die Tochter als Ehre betrachte, doch brauche alles Überlegung. Man werde Herrn Goethe nach seiner Rückkehr schriftlich in das "Rote Haus" Nachricht zukommen lassen. Goethe nimmt das als Hinweis, daß die Entscheidung nicht lange auf sich warten lassen würde und daß Henriettes Vater keinen Anstoß genommen habe an dem großen Altersunterschied von gut 20 Jahren! Goethe will etwa eine Woche die Grafschaft Glatz bereisen, den rechteckigen Mittelgebirgskessel, der seit Friedrich II. zu Preußen gehört. Henny wird ihn in Liebe zurück erwarten. Zum Abschied hatte er ihr ein Zettelchen mit einem Gedicht zugesteckt. Sie wird lesen:
Woher sind wir geboren? Aus Lieb.
Wie wären wir verloren? Ohn Lieb.
Was hilft uns überwinden? Die Lieb.
Kann man auch Liebe finden? Durch Lieb.
Was läßt mich lange weinen? Die Lieb.
Was soll uns stets vereinen? Die Lieb.
Noch sind seine Gedanken bei Henny und den Tagen in Breslau. Dort herrschte Hochbetrieb, das städtische Leben, dazu die vielen Soldaten, die Militärparaden. Dauernd war war man eingespannt in gesellschaftliche Verpflichtungen. Als die Kutsche die Stadt verließ, hatte er zurück geschaut: die Stadtmauern, deren Tore, Dächer und Kirchtürme, der höchste von St.Elisabeth, alles verblieb im Dunst des Sommertages. Die Kutsche mit Goethe rollt jetzt an diesem 26.August weiter nach Süden. Goethe versinkt in Gedanken: Hier zeigte sich was Friedrich II. nach dem siebenjährigen Krieg für seine liebste Provinz getan hatte: Beseitigung der Schäden und Verwüstungen, großzügiger Wiederaufbau. Und in Preußen wehte der Geist der Aufklärung und Toleranz, hier gab es schon lange keine Zensur mehr! Stoppelfelder säumen den Weg. Auf Kartoffelfeldern beginnt das Kraut abzusterben. Erst vor ein paar Jahrzehnten hatte Friedrich der Große den Kartoffelanbau in Schlesien durchgesetzt.- Auch hier herrscht auf der Straße noch viel Verkehr, fast wie vor den Toren von Breslau. Öfter müssen sie einen Pferde-oder Ochsenkarren überholen, der zum Straßenrand ausweichend Staub aufwirbelt. Andere Fuhrwerke kommen entgegen. Goethes Kutsche fährt durch Dörfer mit weiß getünchten Häusern und Gehöften. Weit gestreckte Gebäude zeigen die Lage eines großen Gutes. Goethe denkt zurück an das Gut in Hartlieb, an Henny. Auch die weiten, großen Felder rechts und links der Chaussee gehören zu den Gütern der Adeligen. Da liegen Orte wie Domslau, wo man beim Durchfahren aufpassen muß, Fuhrwerke kommen aus Gehöften, Kinder oder Geflügel kreuzen den Weg. Dann Jordansmühl, hier gibt es Serpentin-Steinbrüche in denen man den jadeähnlichen Nephrit findet. Doch der sonst so sehr an Mineralien interessierte Goethe fährt vorbei. Er schaut hinüber zu dem westlich immer klarer sichtbaren Berg, dem Zobten. Die Landschaft ist hügeliger geworden. Hinter den Bauern, die den Stoppel umpflügen, stolzieren Störche. In den frischen Furchen finden sie Nahrung. Immer näher kommt die Kutsche mit den flotten Pferden dem Berg Zobten. Bei klarem Wetter ist er von Breslau aus gut zu sehen. Über 2000 Fuß (718 m) ist er hoch und schon 400 v.Chr. gab es oben einen keltischen, 500 Jahre später einen wandalischen Ringwall mit Kultstätte. Wälder gibt es hier, und Apelbäume voll von Früchten begleiten die Straße. Wiesen liegen in den Senken, Bauern und Knechte sind mit ihren Sensen dabei das zweite Heu, Grummet, zu schneiden. Am Weg liegt ein Renaissanceschloß, Groß-Wilkau, dann steigt die Straße durch bewaldete Hügel in einem Bogen eine Anhöhe hinauf. Weiß Goethe, daß er hier auf der uralten "Bernsteinstraße" fährt, die von der Ostsee über Breslau durch die Grafschaft Glatz bis nach Aquileia an der Adria führte? Seit Römer-Zeiten ist die Straße viel befahren, auch heute. Immer begegnen ihnen Fuhrwerke, teils mit vier oder sogar sechs Pferden bespannte, schwere Kaufmannswagen, vollgeladen mit Waren aus dem Gebirge wie Leinen und Tuch, aus Böhmen Glas. Andere Fuhrwerke muß ihre Kutsche überholen, meist Kaufleute aus Breslau, die ihre Waren in den Süden transportieren. Doch die Anhöhe nach Nimptsch hinauf können auch die Pferde vor Goethes Kutsche nur im Schritt gehen. In Nimptsch wird eine Rast eingelegt. Die Pferde werden getränkt. Goethe sieht die Kirche St.Peter und Paul aus dem 13.Jh., die Ruine des Schlosses, das 1633 zerstört wurde. Dann rollt der Wagen leicht die Straße hinab. Gerade in diesem Jahr wurde die Straße von Nimptsch über Frankenstein nach Glatz durch die Provinzial-Verwaltung in Breslau zur Chaussee ausgebaut. Jetzt zum Ende des Sommers befinden sich noch Arbeiter am Straßenrand, welche Sand und Erde mit Schaufeln planieren, noch werden letzte Pflasterarbeiten verrichtet.
Im Süden erscheinen die Umrisse des Reichensteiner und des Eulengebirges, blau-violett zeichnet es sich gegen den Himmel ab. Die Sonne steht schon recht tief. Nach der Karte ist man jetzt im Fürstentum Münsterberg-Frankenstein. An frisch gepflügten Feldern sieht Goethes geübter Blick, hier gibt es besten, fruchtbaren Boden, ähnlich dem bei Schweidnitz und Reichenbach. Wieder geht es eine Anhöhe hinauf. Links liegt ein bewaldeter Berg, ein Zwerg gegen den Zobten. Ob Goethe nicht wußte, daß hier der von Friedrich dem Großen so geschätzte Chrysopras gefunden wird? Kleine Bergwerksstollen gab es da, so zwischen Zülzendorf und Dirsdorf den "Siebenbrunnen". Noch an seinem Todestag dem 17.August 1786 hatte der große König einen Brief diktiert, mit welchem er dem Obrist von Regler den Eingang einer Sendung Chrysopras bestätigte. Der König konnte diesen Brief nicht mehr selbst unterzeichnen. Gerade vor ein paar Tagen war es erst 4 Jahre her, daß der große König starb. Von dem Brief wußte der Mineraloge Goethe bestimmt nicht, wohl aber von den hiesigen Vorkommen des Chrysopras. Waren seine Gedanken wieder bei Henny und hatte er zuviel Zeit in Hartlieb verloren, daß der Mineraloge Goethe sich hier etwas entgehen ließ? Als die Pferde am Fuß des Gumberges den höchsten Punkt der Straße erreicht haben, bietet sich den beiden Männern ein unbeschreiblicher Ausblick. Sicher hat Goethe hier anhalten lassen. Die Pferde dürfen verschnaufen, und der Dichter genießt den Duft von Heu, von Blüten, Bäumen und Wald am Fuß des Gumberges. Da liegen Dörfer in Mulden eingebettet deren Namen Goethe nicht kennt, dazu sind sie zu unwichtig, aber schön ist es wie sie da liegen: Zülzendorf, Protzan, dahinter das Eulengebirge. Dort hebt sich der Donjon von Silberberg jetzt scharf gegen den abendlichen Himmel ab. Es ist die Festung, die Friedrich II. vor einigen Jahren unter dem Obrist von Regler erbauen ließ, der ihm die Chrysopras-Sendungen organisierte. Vor dem Betrachter Goethe, nur ein kurzes Stück unterhalb seines Aussichtspunktes, liegt sein heutiges Ziel: die Stadt Frankenstein.
Goethe genießt das Panorama während sein Diener Paul die Pferde wieder ausgreifen läßt. Die braven Tiere wittern einen Stall. Man läßt Protzan rechts liegen und nähert sich der Stadt, klar liegt es vor ihnen, das Panorama von Frankenstein, Kirchtürme, Tortürme, Rathausturm. An der Straße, ein Stück vor dem Breslauer Tor passieren sie linker Hand die Begräbniskirche St.Nikolaus, dann die Gastwirtschaft "Blauer Hirsch". Die Schlesier nennen solche Landgasthöfe "Kretscham" weiß Paul seinem Herrn zu berichten. Dann sind da noch ein paar Bauerngehöfte, die preußische Kaserne. Bauernfuhrwerke begegnen ihnen, die auf dem Heimweg vom Markt sind. Andere, meist Händler, fahren wie Goethe in die Stadt. Bald wird es Dunkel sein. Die Kutsche rollt durch das Breslauer Tor. Auch in der Stadt herrscht noch viel Betrieb. Händler räumen ihre Waren zusammen, Frauen tragen ihre Einkäufe nachhause, Kinder spielen noch vor den Türen. Aus dem offenen Fenster eines Hauses klingt das Weinen eines Säuglings. Vielleicht wird er in 68 Jahren den schrecklichen Brand in Franke stein noch erleben? Doch niemand kann in die Zukunft schauen.-
Dann hält Paul Götze die Pferde an. Sie haben ihr Ziel erreicht und steigen im "Weißen Roß" ab. Die Männer sind müde. Paul versorgt die braven Pferde. Goethe läßt beim Abendessen den Tag durch seine Gedanken ziehen. Es war eine schöne Fahrt durch liebliche Landschaften. Goethes Gedanken wandern wieder zu Henny. Aber dann spricht er noch mit dem Wirt über den Weg der am nächsten Tag vor ihnen liegt. Sein Ziel ist Reichenstein, darum müssen sie die große alte Königsstraße hinter Frankenstein verlassen. Der gemütlich gesprächige Wirt erklärt ihm in seinem breiten schlesischen Dialekt, daß sie gleich unterhalb des Glatzer Torberges nach links abbiegen müssen. Zadel heißt das Dorf, das sie durchqueren müssen um dann weiter nach Camenz zu fahren, den Ort mit dem großen Kloster der Zisterzienser. Dann legt sich Goethe zur Ruhe. Schon um 3 Uhr morgens, es ist Freitag der 27.August, brechen Goethe und sein Diener Paul wieder auf.
Der Ring liegt noch in nächtlicher Stille, eine Katze huscht vorbei in Richtung Rathaus. Sein Turm steht als schöne Silhouette vor dem Nachthimmel neben dem Schmetterhaus. Im Vorbeifahren schaut Goethe in eine Seitenstraße und läßt noch einmal kurz anhalten. Es ist noch dunkel ein paar Fackeln und Kienspäne erhellen schon den Weg zu einer großen Kirche, davor steht der zugehörige, mächtige Glockenturm. Er ist schief, neigt sich schwer nach rechts zur Straße hin. Ganz oben trägt er eine spitze Haube, die sich schwarz gegen den noch nachtblauen Himmel abhebt. Der Wirt vom "Weißen Roß" hatte am Abend von dem "schiefen Turm" erzählt, daß der Glockenturm seit 200 Jahren diese Neigung aufweise, anderthalb Ellen! Der Magistrat der Stadt habe schon viele Baumeister aus der ganzen Umgebung um Rat gefragt. Es war bisher alles umsonst.- Der "schiefe Turm" hat oben eine Uhr, doch die Zeit kann man jetzt in der Frühe noch nicht erkennen. Goethe gibt seinem Kutscher Paul ein Zeichen, die Pferde ziehen an. An der nächsten Straßenecke sieht man rechts hinten dunkel die mächtige Ruine des Schlosses. Ein Teil wird noch durch die von Auersperg genutzt, denen das Fürstentum Münsterberg-Frankenstein seit langem gehört. In Breslau bei Hofe hatte Goethe gehört, der Preußenkönig trüge Kaufgedanken. Vielleicht ist es auch nur ein Gerücht. Hier ist die Kutsche am steil abfallenden Glatzer Torberg. Paul muß die Bremsen stark anziehen damit die Chaise den Pferden nicht in die Hinterbeine rollt. Hier können die Tiere die Chaise nicht allein mit der Deichsel aufhalten. Vorsichtig kutschiert Paul die steile Straße hinab. Linker Hand erkennt man gegen den Morgenhimmel den Umriß einer anderen Kirche, deren barocken Turm eine wunderschöne Haube ziert. Das muß die Kirche von Zadel sein. Sie ist der hl.Hedwig geweiht, weiß Goethe vom Wirt. Der Wirt vom "Weißen Roß" hatte sich dem feinen Herrn gegenüber ziemlich vergeblich bemüht hochdeutsch zu sprechen. Doch Goethe, von vielen Reisen an viele Dialekte gewöhnt, hatte ihn verstanden. Auch in Breslau war von der Heiligen aus dem bayrischen Andechs und ihrem Wirken in Schlesien vor fast 600 Jahren gesprochen worden.- Von drüben hörte man in der Morgenstille das Rauschen des Pausebaches an den Mühlen. Dieser Bach und der Fluß Neisse, in welchen der Bach mündet, hätten schon oft schlimme Hochwasser gebracht, so hatte der Wirt erzählt. Jetzt haben sie das Dorf Zadel mit seinen schönen Bauerngehöften hinter sich gelassen. Im Osten wird es leicht heller. Vor ihnen erhebt sich ein bewaldeter Hügel. Noch gibt es keinen Verkehr. Nur einen Bauernwagen müssen sie überholen. Er fährt so zeitig, noch während der Dunkelheit, mit schweren Pferden bespannt anscheinend zum Gebirge um Holz zu holen. Goethe und Paul kommen mit ihren ausgeruhten Pferden schnell voran. Bald erreichen sie schon Camenz. Von dem bewaldeten Hügel, dem Herthaberg, wird hundert Jahre später ein Hohenzollerschloß herabschauen und von den vielen stattlichen Gebäuden des Zisterzienserklosters, an dem sie jetzt vorbei fahren, wird nach einem Brand nur noch die Kirche und der linke Bau, der Prälatenflügel stehen. Bei einem Diner in Breslau zu dem er vom Weihbischof Anton von Rothkirch geladen war, hörte Goethe, daß sich im Norden des Fürstentums noch ein zweites großes Kloster der Zisterzienser befände, Heinrichau heißt es, nach seinem Gründer, dem Gatten Hedwigs von Andechs.- Dort in jenem Kloster Heinrichau wird später die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar als Besitzerin Hof halten, und in Weimar wird sie einmal seinen, Goethes, Nachlaß pflegen.- Doch in die Zukunft kann auch ein Dichter nicht schauen.- Von der Klosterkirche, die sie hinter sich gelassen haben, ruft eine Glocke die Mönche zum Gebet. Irgendwo kräht ein Hahn. In den Gärten beginnen vereinzelt Vögel zu zwitschern. Goethe nimmt es wahr und denkt an Henriette, die jetzt noch ruhen wird. Auch im Park des Gutes in Hartlieb werden jetzt die Vögel zu singen beginnen. In Kamenz muß Paul Götze mit der Kutsche die weiter nach Neisse führende Straße verlassen und auf die nach Süden gehende wechseln. Dann queren sie auf einer Brücke einen breiteren Fluß, die Neisse. Dieser aus dem Gebirge, der Grafschaft Glatz kommende Fluß würde oft gefährliches Hochwasser führen, so hatte der Wirt in Frankenstein erzählt. Das sah man diesem jetzt so harmlos durch die morgenstillen Auen fließenden Gewässer nicht an. Die Hälfte ihres Weges nach Reichenstein haben sie geschafft. Im Osten rötet sich der Himmel. In Schlesien geht die Sonne früher auf als in Weimar. Im Vorbeifahren sehen sie in Stallfenstern bereits Licht flackern und erste Landleute sind schon auf dem Weg zu entfernt liegenden Feldern. Das Leben erwacht zeitig in den Dörfern. Die Schlesier sind ein sehr fleißiger Menschenschlag. Die Straße hier ist nicht mehr so gut, wie die vorher befahrenen, die Kutsche kommt nicht mehr so schnell voran. Doch bald sehen sie Reichenstein im Morgenlicht vor sich liegen. Gegen 6 Uhr sind sie, wie geplant in Reichenstein. Das Städtchen wurde von dem Kloster in Camenz, an dem sie vor etwa 1½ Stunden vorbeifuhren, im Jahr 1273 gegründet. Die große Pfarrkirche ist jetzt evangelisch. Am Ring gehörte das Haus Nr.20 den Augsburger Fuggern. Auch ihr Interesse, wie jetzt Goethes, galt den Erz- und Goldvorkommen hier. Goethe will den Bergstollen "Zum goldenen Esel" in Augenschein nehmen. Der Legende nach wurde schon seit dem Jahr 933 im "Goldenen Esel" Erz und Gold abgebaut. Ende des 17.Jahrhunderts, also etwa vor hundert Jahren, war der Erzbergbau eingestellt worden. Dann war der wichtigste Schacht "Goldener Esel" abgestürtzt und etwa 90 Bergleute fanden dabei den Tod. Jetzt gewinnt man Arsenik. Reichenstein hatte ein Oberbergamt bekommen, das aber vor ein paar Jahren nach Reichenbach verlegt wurde. Doch es befindet sich hier noch eine Bergbau-Deputation. Goethe ist schon lange angemeldet und wird von einigen Herren erwartet. Man wird ihm alles zeigen was ihn interessiert. An dem Stollen der besichtigt wird, herrscht reges Leben. Bergleute verlassen den Stollen, andere fahren ein, Schichtwechsel. Volle Loren werden von Pferden gezogen, andere leere von Arbeitern geschoben. Goethe interessiert sich für die technischen Einrichtungen, die Sicherheitsvorkehrungen. Er ist in Weimar, Ilmenau, auch dafür zuständig. Gern zeigt man dem Herrn aus Weimar alles was er sehen möchte. Man spricht auch über den Kohlenbergbau in Oberschlesien und die große "Feuermaschine" bei Tarnowitz, der ersten auf dem europäischen Kontinent. Man ist sicher, daß sie den Untertagebau revolutionieren werde. Aus dem Stollen kommend, genießt Goethe die frische Waldluft. In der Stadt nimmt man noch ein Frühstück zu sich. Paul hatte die Pferde mit Futter und Wasser versorgt, jetzt sind sie wieder ausgeruht. Die Tiere haben eine beschwerliche Strecke vor sich. Zum nächsten Ziel Bad Landeck geht es bergauf! In Bad Landeck will Goethe übernachten. Morgen, Sonnabend 28.8. hat er seinen 41.Geburtstag! Kurz hinter Reichenstein bietet sich den Reisenden, sie haben eine Steigung genommen, eine wunderschöne Aussicht nach Norden. Vor ihnen ausgebreitet in der Vormittagsonne liegt das Frankensteiner Land, das sie an diesem Morgen fast nur bei Dunkelheit durchfahren hatten. Doch jetzt heißt es das Reichensteiner Gebirge zu überqueren. In Serpentinen schlängelt sich die Straße durch dichte Wälder bergan. Es geht nur im Schritt vorwärts. Unten links liegt irgendwo das Schlackental. Am Hannig geht es vorbei, zum Zollhaus steigt die Straße weiter an. Die böhmische Grenze ist nicht weit. Die Berge zu linker Hand erreichen 650 m der Weiße Berg, 713 m der Schmerberg und 870 m der Jauersberg, doch zu Goethes Zeit mißt man noch in Fuß. Langsam mit der steigenden Sonne wird es heiß. Da ist es angenehm im Schatten des Hochwaldes. Dann unmerklich hat man das Fürstentum Münsterberg-Frankenstein verlassen. Jetzt ist Goethe in der Grafschaft Glatz, die auch seit etwa 50 Jahren zu Preußen gehört, genau gesagt seit den Feldzügen von Friedrich II. - Dann führt die Straße abwärts nach Bad Landeck. Goethe interessiert sich für die radiumhaltigen Schwefelquellen des Kurortes. Seit Friedrich II., der Große, hier wegen seiner Gicht zur Kur weilte, hat das Bad einen großen Zulauf erhalten. Goethe wird hier übernachten. Morgen Sonnabend den 28.8., seinem Geburtstag, wird er nach Glatz weiter reisen und am Nachmittag Wünschelburg erreichen. Dort will er die Heuscheuer ersteigen, den Tafelberg, der wie ein riesiger Heuschober aussieht. Am Abend wird er Andreas von Rauch aufsuchen, einen preußischen Major a.D., der eine plantagengroße Gärtnerei und ein bei Pferdekennern geschätztes Gestüt betreibt. Mit Andreas von Rauch wird er den Abend seines Geburtstages begehen. Seine Gedanken werden auch da stets bei Henriette von Lüttwitz sein. In seinem Notizbuch steht eine seiner Eintragungen: "Die Zärtlichkeit ist das Ruhen der Leidenschaft."-

Am Montag 30.8. ritt Goethe ins Böhmische zu den Adersbacher und Weckelsdorfer Felsenlabyrinthen. In Schömberg traf er wieder mit Paul Götze zusammen. Am nächsten Tag, dem letzten August, besuchte Goethe das viel gerühmte Kloster Grüssau, die zwei Kirchen mit den Gemälden von Michael Willmann. Wie in Heinrichau und Camenz sind es Zisterziensermönche, die hier wie dort das Land in jeder Hinsicht kulturell gefördert haben. Am 1.September kehrt man über Schweidnitz zurück nach Breslau. In seinem Zimmer findet Goethe ein Billet von Henriette. Sie versichert ihm zärtlich ihre Liebe.
Vom Herzog erfährt Goethe, daß sie schon am 3.9., des Herzogs Geburstag, mit Graf von Reden aufbrechen werden nach Tarnowitz. Von Schuckmann hört Goethe, daß Henriette die ganzen Tage nicht in der Stadt war. Und morgen in der Frühe geht es schon wieder auf Reisen. In Tarnowitz wird man die Dampfmaschine besichtigen, die man hier ehrfurchtsvoll "Feuermaschine" nennt. Weiter reist man nach Polen, nach Tschenstochau und Krakau. Als Goethe endlich wieder in Breslau eintrifft, erhält er ein Schreiben des Baron von Lüttwitz: Nach reiflichem Überlegen in der Familie, nach Erkundigungen über Herrn von Goethe, seine Studien, seine Reisen usw.usw, jedoch in Anbetracht des großen Altersunterschiedes ist man zu der Überzeugung gelangt, daß es für die älteste Tochter, die Freiin Henriette von Lüttwitz nicht geraten erscheint Herrn von Goethe zu ehelichen, so ehrenvoll sein Antrag auch für die Familie sei.- Die Absage des Baron von Lüttwitz hat Goethe tief getroffen. - Er würde Henriette nicht mehr zu sehen bekommen.-
In Breslau hatte sich der Wind gedreht, er kam jetzt von Westen und brachte die üblen, schlechten Gerüche der Weißgerberohle herüber zum "Roten Haus". Es war der Gestank nach Tierhäuten, nach der Gerberbrühe, dem Wasser der Ohle, das die Gerber für ihre Arbeit nutzten. Dieses und die Enttäuschung, gemischt mit Groll, über die als Demütigung empfundene Abweisung seines Antrages durch Baron von Lüttwitz, machte sich wohl Luft in Goethes Brief, den er am 11.September 1790 an Herder in Weimar schrieb:
Ich habe lange von Dir nichts gehört, lieber Bruder, bin wieder hier in Breslau, nachdem wir von einer Reise nach Tarnowitz, Krakau, Wieliczka, Czenstochowa glücklich gestern zurückgekommen sind. Ich habe in diesen Tagen viel Merkwürdiges, wenn auch meist negativ Merkwürdiges, gesehen. An dem Grafen Reden, dem Direktor der Schlesischen Bergwerke, haben wir einen sehr guten Gesellschafter gehabt. Nun sind wir wieder hier in dem lärmenden, schmutzigen, stinkenden Breslau, aus dem ich bald erlöst zu sein wünsche.......... Goethe schreibt dann noch, daß man nicht eher abreisen wird bevor ein erwarteter Kurier eingetroffen ist, der die Zustimmung des türkischen Sultans zur Reichenbacher Konvention bringen soll.

An einem der nächsten Tage schreibt Goethe an Hofrat Voigt in Weimar unter anderem "möge doch mein Wunsch erfüllt werden, daß ich Weimar bald wiedersehe..." Der erwartete türkische Diplomat kam endlich am 17.9. und überbrachte den von seinem Sultan unterzeichneten Friedenstraktat. Goethe erhielt noch einmal ein Billet von der Hand seiner geliebten Henriette:
"Mir ist genug, daß ich Dich lieben kann.- Henny"

Am 18.9.1790 schreibt Goethe an den Hausmarschall von Racknitz in Dresden: "Ich habe in Schlesien manches Gute genossen, manches Merkwürdige gesehen, manche interessante Bekanntschaft gemacht, davon ich allerlei erzählen werde". An Hofrat Voigt in Weimar schrieb er: " Möge doch mein Wunsch erfüllt werden, daß ich Weimar bald wiedersehe" sein Schlußsatz lautet: "Man ist außen doch immer nur geborgt" Wie wahr ist Goethes Wort. Fühlen wir, unseres Landes vertriebene Schlesier uns doch auch "außen nur geborgt"! Am 19.September 1790 verläßt Goethe mit seinem Diener die schlesische Hauptstadt.

Henriette von Lüttwitz heiratete am 25.4.1791 den Witwer Friedrich von Schuckmann. Ihr Vater starb im Jahr 1793. Der inzwischen zum Kammerpräsidenten avancierte Schuckmann wurde im März 1795 nach Bayreuth versetzt. In ihrer Ehe bekam Henriette mehrere Kinder, nur zwei blieben am Leben. Am 17.April 1799 starb Henriette, geborene von Lüttwitz, in Bayreuth. Sie wurde nur 29 Jahre alt.

Man lese Heinz Piontek "Goethe unterwegs in Schlesien", Bergstadtverlag Wilh. Gottlieb Korn

„Man ist außen doch immer nur geborgt“ - Goethe empfand das fern von Weimar in Schlesien. Wir Schlesier, vertrieben aus Schlesien, können das Gefühl des „außen doch immer nur geborgt sein„ bestens bestätigen.